Mittwoch, 21. Mai 2025 | Aktuelles

Bewegende Gedenkveranstaltung an den Todesmarsch

Knapp 50 Menschen haben am Sonntag mit einer Wanderung und anschließender Gedenkfeier den Opfern des Todesmarsches vom April 1945 gedacht. Die Grußworte und Beiträge von Angehörigen waren ebenso eindrücklich wie nachdrücklich – ein mahnender Appell an die Gesellschaft der Zukunft

Zettel mit Namen von Teilnehmenden des Todesmarsches an Wäscheleine, im Hintergrund Personen
Bei der Gedenkfeier wurden die Namen der bekannten zum Marsch gezwungenen Menschen verlesen © Anna Biß / SHHB

„Nur wer erinnert, schützt die Zukunft“ – mit diesen Worten beendet Dr. h.c. Gerhard Ulrich, Beauftragter für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus des Landes Schleswig-Holstein sein Grußwort bei der Gedenkveranstaltung am ehemaligen „Arbeitserziehungslager (AEL) Nordmark“ in Kiel-Hassee. Nach einer Wanderung der letzten 3,5 Kilometer der Strecke des Todesmarsches von 1945 sind hier knapp 50 Menschen zusammengekommen, um gemeinsam zu erinnern.

Im Jahr 2025, 80 Jahre nach dem Kriegsende – einem Jahr, in dem sich antisemitische Vorfälle im Vergleich zum Vorjahr fast vervierfacht haben – betont Dr. Ulrich die Bedeutung des Gedenkens: „Erinnerungsverweigerung ist keine Option. Wer die Vergangenheit leugnet oder relativiert, bereitet dem Hass den Boden. Unsere Erinnerungskultur ist kein Zeichen von Schwäche, sondern Ausdruck einer wehrhaften Demokratie“, sagt er.

"Erinnerungskultur als Zeichen einer wehrhaften Demokratie"

Und so wurde am Sonntag erinnert – an die annähernd 800 Menschen, die von Hunger, Misshandlungen und Haft entkräftet, oft ohne Schuhe, im April 1945 vom Polizeigefängnis „Kolafu“ in Hamburg-Fuhlsbüttel zum „AEL Nordmark“ nach Kiel-Hassee getrieben wurden. Offiziell galt der Marsch als Evakuierung, heute wissen wir: Es war ein Todesmarsch. Neun Menschen wurden von den Wachhabenden bereits auf dem Weg erschossen, andere starben später an den Folgen der Strapazen des Marsches oder litten ihr Leben lang an den physischen wie psychischen Folgen ihrer Kriegserlebnisse. Sie stehen stellvertretend für die unzähligen Opfer der Gräueltaten der Nationalsozialisten und ihre Namen und Geschichten sind zugleich Mahnungen an die Gesellschaft von heute, über unsere Verantwortung, dass sich die Geschichte nicht wiederholen darf. Deshalb wurden die bekannten Namen der zum Marsch gezwungenen Menschen auch verlesen, eine Bekundung des Respektes, die niemanden kalt lassen kann. Bei der Gedenkfeier sorgte zumindest nicht nur der frische Wind am ehemaligen „AEL Nordmark“ für ein Frösteln bei den Teilnehmenden, sondern auch die bewusste Wahrnehmung der vielen Namen der Opfer – von Frauen, Kindern, Männern, ganzen Familien.

Der Präsident des Schleswig-Holsteinischen Heimatbundes (SHHB) Peter Stoltenberg empfindet die Wanderung als „Erinnerung in Verbindung mit einer körperlichen Erfahrung“. Er beschreibt in seinem Grußwort die Gedanken, die ihm während der Wanderung durch den Kopf gingen: Wären wir heute selbst bereit, um den Preis unserer eigenen Unversehrtheit, einem bedrohten Menschen zu helfen? Würden wir Mitmenschlichkeit zeigen, auch wenn es Lebensgefahr bedeutet – so wie es für die Menschen war, die entlang der Route des Todesmarsches 1945 gelebt haben, sich vielleicht in ihren Häusern versteckt, die Gardinen zugezogen, die Augen verschlossen haben? „Ich bin froh, dass ich diese Frage für mich bisher nicht beantworten musste“, fährt Stoltenberg fort.

Biografienarbeit als Berufung

Dietlind Kautzky von der „Biografiengruppe Todesmarsch Hamburg – Kiel“, die die Gedenkveranstaltung organisiert hat, kennt die Geschichten der Menschen auf dem Todesmarsch, hat mit der Biografiengruppe ihre Einzelschicksale studiert – und vielen von ihnen ihre Namen und damit ein Stück ihrer Würde zurückgegeben.

Aus dem Bericht der Jüdin Hilde Sherman, einer Teilnehmerin des Marsches, zitiert sie: „Eine Frau zog die Schuhe aus und mit den Schuhen die Fußsohlen. Entsetzt sahen wir, dass ihre Füße nur noch eine rohe Masse waren“. Einige Frauen, die den Marsch nicht fortsetzen konnten, wurden auf der Strecke zurückgelassen, berichtet diese – schon fast eine kleine Geste der Mitmenschlichkeit, weiß Kautzky. Denn die Wachhabenden hatten den Befehl, alle Häftlinge, die zurückblieben oder einen Fluchtversuch wagten, zu erschießen. Insgesamt wurden neun Menschen auf dem Todesmarsch hingerichtet. Dass sich nicht alle Bewacher an die Befehle gehalten, sondern so etwas wie Mitgefühl gezeigt haben, wie Hilde Sherman berichtet, ist zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, doch genau dieses Mitgefühl für Menschen, so unterschiedlich sie auch sein mögen, bräuchten wir auch heute, appelliert Dietlind Kautzky in ihrer Begrüßungsrede: „Die Architektur des Nationalsozialismus bedeutete Gleichschaltung. […] Die Gesellschaft war durch das Prinzip von Befehl und Gehorsam gekennzeichnet. Wir brauchen heute statt Mitläufern selbstständig denkende Menschen mit Zivilcourage, die die Verantwortung für ihre Handlungen bewusst übernehmen und wenn es drauf ankommt, auch mal ‚Nein‘ sagen.“

Marina Zander, die während der Wanderung ein Bild ihres Urgroßvaters Wübbo Sielmann auf dem Rücken getragen hat, einem politischen Verfolgten und einer von denjenigen Menschen, die diese Strecke 1945 unter Qualen zurücklegen mussten. Wübbo Sielmann schaffte es nach Hause nach Ostfriesland an die Grenze zu den Niederlanden und starb dort kurz darauf – etwa vier Wochen nach dem Todesmarsch, eine Woche nach Kriegsende. Marina Zander berichtet: „Der Mann, der schon den ersten Weltkrieg mit dem grausamen und sinnlosen Sterben so vieler junger Soldaten erlebt hatte. […] Dieser Mann konnte nicht verkraften, was er in diesen letzten sechs Wochen seines Lebens erlebt hatte. Die bewusste und oft inszenierte Ausübung einer unvorstellbaren menschenverachtenden Grausamkeit.“ Die Bilder verfolgten ihn bis auf sein Sterbebett, berichtet sie. Heute fragt sich seine Urenkelin, wie ihr bereits kranker und geschwächter Urgroßvater, nach dem Todesmarsch den Weg nach Hause überhaupt noch bewältigen konnte: „Ein Mann, 1,80 Meter groß, 40 Kilo leicht. […] Ich kann mir das nur mit einem immens starken Willen erklären […], mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.“ Gedenkveranstaltungen wie diese, seien für sie daher heute auch eine Gelegenheit, die Stärke und Entschlossenheit ihres Urgroßvaters zu feiern und damit die bisher 65 Jahre, die sie selbst in Freiheit leben konnte, sagt Marina Zander abschließend.

Und auch Dr. Ulrich findet in seiner Rede noch einmal nachdrückliche und zugleich mahnende Worte, die sich an die Gesellschaft von heute richten: „Die Opfer des Todesmarsches erinnern uns daran: Wo Menschen entrechtet werden, wo Hass regiert, wo Gleichgültigkeit herrscht – dort verliert auch die Mehrheit ihre Menschlichkeit. Und deshalb sage ich heute: Unsere Demokratie braucht nicht nur Gesetze. Sie braucht Haltung. Unsere Erinnerung braucht nicht nur Worte. Sie braucht Taten.“